Wie sich Erlebnissein der Natur positiv auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen auswirken, erlebt Werner Michl seit Jahren. Jetzt hat der Erlebnispädagoge aus Berg sein erstes Kinderbuch herausgegeben. Ein Gespräch über die Kraft der Gemeinschaft.

Interview: Susanne Hauck (Starnberger SZ, 14. April 2023)

Berg – Was passiert, wenn das Haus plötzlich von Mehlwürmern verseucht ist, weil die Kiste mit dem Vogelfutter umgefallen ist? Fünf Freunde verzweifeln fast daran, die Plagegeister wieder loszuwerden, die zu Hunderten in allen Ritzen und Ecken stecken. Das für ein Kinderbuch ganz schön ungewöhnliches Thema hat sich Werner Michl ausgedacht. Michl ist ein Pionier der Erlebnispädagogik. Das noch recht junge Feld der Pädagogik befasst sich mit Gruppenerfahrungen in der Natur, um die Persönlichkeit und die soziale Kompetenz zu stärken. Der 72-Jährige ist eine drahtige, sportliche Erscheinung und gibt bis heute Uni-Seminare mit Höhlenbegehungen und Wildnistouren. Er wohnt seit vielen Jahren im Berger Ortsteil Bachhausen.

Herr Michl, Sie haben schon Dutzende Fachbücher geschrieben, warum jetzt dieses Bilderbuch für Kinder?

Ich hatte das Manuskript schon 30 Jahre fertig in der Schublade und jetzt, als emeritierter Professor, endlich Zeit und Muße, mich um die Veröffentlichung zu kümmern. Außerdem sind meine Enkel zwischen drei und sieben Jahre alt und damit im richtigen Alter.

Wovon handelt das Buch?

Es geht darum, wie eine Freundschaft zerbrechen kann, wenn es plötzlich ein Problem gibt und jeder nur als Einzelkämpfer unterwegs ist. Es bringt viel mehr, wenn man sich zusammensetzt und gemeinsam versucht, es zu lösen. Vieles was im Buch vorkommt, ist wirklich passiert. Wir waren fünf Freunde und ganz unterschiedliche Typen und wohnten damals in einer Studenten-WG in einem alten Bauernhaus bei Freising. Auch unseren Mitbewohner, den Raben Jokl, gab es wirklich. Allerdings muss ich gestehen, dass es nicht wir waren, die die Büchse mit Mehlwürmern umgekippt haben, sondern dass das im Bekanntenkreis passiert ist. Mit verhängnisvollen Folgen. Das ganze Haus musste damals geräumt werden.

Gemeinsam ist man also stärker. Das ist doch bestimmt auch ein Credo in der Erlebnispädagogik?

Da erzähl ich Ihnen ein schönes Beispiel. Es ging um zwei Chefs, einen alten und einen neuen, die waren sich nicht grün und kriegten die Übergabe in der Firma nicht hin. Um das Problem zu lösen, bekamen sie ein Coaching verordnet. Im Hochseilgarten mussten sie über einen wackligen Balken gehen. Sie haben nicht gemerkt, dass das nur geht, wenn sie sich aneinander abstützen. Beide versuchten stur, einzeln rüberzukommen. Jedesmal fielen sie aufs neue ins Netz, wurden wieder hochgezogen und mussten von vorn anfangen. Die Mannschaft unten hat sich das genüsslich zugeschaut. Bis einer mal den Chefs zugerufen hat, wie wär’s, wenn Sie sich gegenseitig helfen?

Hochseilgarten, Klettern, Höhlentouren, das klingt wie Urlaub. Was ist der Unterschied zu Jochen Schweizer?

Bei Jochen Schweizer geht es um die Freude am Abenteuer. Bei uns geht es ums Lernen. Wir Erlebnispädagogen sind überzeugt davon, dass das durch Erlebnisse besser funktioniert. Learning by doing ist besser als der reine Frontalunterricht, das sagt auch die Gehirnforschung. Im Unterschied zu Abenteueranbietern gehört es natürlich hinterher auch dazu, zu besprechen, was die Situation mit dem eigenen Leben zu tun hat.

Wie sind Sie zur Erlebnispädagogik gekommen?

Zum einen bin ich im Chiemgau aufgewachsen, die Berge sind mein Leben. Nach dem Studium war ich eine Zeitlang Leiter der Jugendfreizeitstätte Pullach. Weil ein paar Jugendliche immer von Kanada geschwärmt haben, hatte ich eines Tages den Vorschlag, wir könnten ja mal einen Praxistest machen und dafür in die Berge gehen, eine Schneehöhle bauen und darin übernachten. Das hat richtig gut funktioniert, und der Draht zu den Jugendlichen war hinterher sehr viel besser. Später, als Bildungsreferent der Jugendbildungsstätte Burg Schwaneck in Pullach, kam ich auf die Idee, die Lernräume nach draußen zu verlegen. Wir sind in Höhlen gegangen und haben dort das Höhlengleichnis von Platon gelesen. Oder Rilke-Gedichte über die Nacht und die Dunkelheit.

Was kann man in Höhlen lernen?

Wir haben es genutzt, dass der Abenteuer und Forscherdrang bei Jugendlichen von Haus aus hoch im Kurs stehen. Wenn man das philosophische Gleichnis von Platon wirklich in einer Höhle liest oder sogar im Rollenspiel nachspielt, geht das Verständnis viel tiefer, als wenn man es drinnen in einem Seminarraum behandelt.

Sie sitzen mit Ihren Studenten auch einfach mal schweigend eine Stunde im Dunkeln. Was bringt das?

Am Anfang wurde immer gemault, was, eine ganze Stunde lang, muss das sein. Aber da passiert ganz viel mit uns. Unsere Köpfe sind total voll mit unnötigem Zeug. Man muss erst mal den Alltagskäse wegdenken und zur Ruhe kommen. Das einzige Geräusch ist das tropfende Wasser in der Höhle. Nach einiger Zeit kommt man zu dem Wesentlichen, was einen wirklich bewegt. Zum Beispiel, was man gerne in seiner Bachelor-Arbeit machen würde (lacht). Später „wecke“ ich die Studierenden, indem ich mit Steinen klopfe. Und dann kann es keiner glauben, dass die Stunde schon vorbei ist.

Eines Ihrer Uni-Seminare halten Sie Lappland ab.

Lappland ist die letzte Wildnis Europas. Es gibt weder Wege noch Handyempfang. Wir laufen fünf Tage, jeden Tag bekommt ein anderer Karte und Kompass und muss die anderen dirigieren. Da gibt es einen Haufen irrationale Ängste: sich verlaufen, hungern müssen, nass werden und frieren, auch Ängste vor Bären oder Wölfen.

Wie findet denn da die Pädagogik statt?

Der Sinn des Seminars ist es, das Selbstbewusstsein zu stärken und soziale Kompetenzen zu entwickeln. Die Leute kommen total happy zurück, weil sie es gemeinsam geschafft haben. Es ist ein riesiges Erfolgserlebnis, mal seine Komfortzone zu verlassen, an seine subjektiven Grenzen zu kommen und das zu meistern. Ein Lagerfeuer zu machen, obwohl es regnet oder sich durchzubeißen mit einem Rucksack, der schon mal 18 Kilo wiegt.

Welche Gruppendynamik läuft da ab?

Die ist hochinteressant. Es gibt immer Leute, die nicht so fleißig sind und das merken die anderen natürlich, dass die noch nie gekocht und abgespült haben. Da gibt’s natürlich Konflikte. Aber an diesen Konflikten lernt man eben auch. Die Gruppe muss sich zusammenraufen. Ich greife nur ein, wenn es sein muss. Aber natürlich muss ich die Augen offenhalten, dass es jedem psychisch gut geht. Und meine Rolle ist es natürlich auch, für die äußere Sicherheit zu sorgen.

Können Sie ein Lagerfeuer machen?

Ich bin seit 35 Jahren unterwegs, da lernt man die Basics. Welches Holz gut brennt, und dass man genug Wasser dabei hat, in Lappland ist das aber kein Problem. Man sollte aufpassen, dass man anfangs nicht zu viel Beeren isst. Der Magen ist an so viele Preiselbeeren und Blaubeeren nämlich nicht gewohnt, sonst gibt’s Durchfall.

Was ist die wichtigste Eigenschaft, die man als Leiter mitbringen muss?

Als erstes die Erfahrung, alle Touren habe ich erst alleine ausprobiert. Die Teilnehmer sollen sich ja nicht in Gefahr begeben. Sportlich muss man natürlich schon sein. Und man darf nicht die Nerven verlieren, denn Panik überträgt sich auf die Gruppe.

Ruhe bewahren, das hört sich so easy an. Gab es denn nie brenzlige Situationen?

In all den Jahren ist zum Glück nie viel passiert. Wenn einer ins Wasser fällt, dann werden die Sachen am Feuer getrocknet. Wenn einer Kopfweh hat, dann ist halt einen halben Tag Lager angesagt. Aber ein grenzwertiges Erlebnis gab es doch.

Was ist passiert?

Wir waren in einer Höhle eingesperrt. Das war im Jahr 1997 in der Salzgrabenhöhle am Königsee. Ein riesiges Höhlensystem. Was es dort gibt, sind Siphon, Höhlengänge, die wie eine Sinuskurve verlaufen. Nachts bin ich runtergegangen und habe gemerkt, dass der Siphon durch vielen Regen zugelaufen und uns der Weg abgeschnitten ist.

Was macht man dann? Hat man da nicht Angst um sein Leben?

Eigentlich ging es nur darum, zu warten, bis das Wasser wieder abgelaufen ist. Rein rational gab es keine Gefahr. Wir waren gut ausgerüstet, hatten Schlafsäcke und genug Essen und Trinken dabei. Die meisten von uns waren Bergsteiger mit viel Erfahrung, ein paar Anfänger gab es aber auch. Wichtig ist immer, dass keine Panik ausbricht. Die Regel lautet, wenn ein paar in der Gruppe positiv denken, dann springt das auf die anderen über. Aber auch wenn man lässig tut, ist die Verantwortung natürlich groß. Ich muss immer schauen, wie die Leute zurechtkommen und mich in ihre Ängste auch hineinversetzen können, sie beruhigen. Draußen war die Aufregung natürlich groß. Aber wir haben keine Hilfe gebraucht, wir kamen aus eigener Kraft wieder raus. Nach 24 Stunden war das Wasser wieder abgelaufen.

Es muss ja nicht immer gleich eine Höhle sein, Erlebnispädagogik lässt sich doch bestimmt auch im Alltag umsetzen. Welche praktischen Tipps haben Sie für Eltern mit Kindern?

Öfter gemeinsam in die Natur rausgehen, weil diese eine sehr heilsame Wirkung hat. Zum Beispiel kann man eine Nachtwanderung im Wald machen. Etwas ganz harmloses und trotzdem ein großes Erlebnis. Einfach die Taschenlampe ausmachen, ganz still sein und schauen, was man alles sieht oder das Käuzchen rufen hört. Oder im Sommer nachts in der Wiese schlafen. Ich gehe mit meinen Enkeln auch gern zu dem Weiher zwischen Bachhausen und Icking, da gibt es ganz viele Vögel, die wir beobachten. Oder Sie kraxeln mal auf einen Jägerstand und machen oben Brotzeit mit den Kindern. Das sind alles kleine Abenteuer, die jeder machen kann. Dafür muss man auch nicht sportlich sein.

Bewegung und frische Luft können also so eine große Wirkung haben?

Ich bin seit vielen Jahren im Vorstand vom Verein GFE | erlebnistage (www.erlebnistage.de). Wir haben im Jahr 800 Schulklassen zu Gast. Die Kinder sind den ganzen Tag draußen und toben, abends sind sie müde und fallen ins Bett. Und wissen Sie was, ADHS spielt bei uns so gut wie keine Rolle.

Werner Michl (2023). Der Rabe Jokl, viele Mehlwürmer und fünf Freunde. Ein Bilderbuch zum Lesen, Vorlesen und mit Anregungen zum Weiterdenken. Mit Bildern von Anke Schlehufer. Augsburg: ZIEL-Verlag, Euro 24,80.

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Wie sich Erlebnissein der Natur positiv auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen auswirken, erlebt Werner Michl seit Jahren. Jetzt hat der Erlebnispädagoge aus Berg sein erstes Kinderbuch herausgegeben. Ein Gespräch über die Kraft der Gemeinschaft.

Interview: Susanne Hauck (Starnberger SZ, 14. April 2023)

Berg – Was passiert, wenn das Haus plötzlich von Mehlwürmern verseucht ist, weil die Kiste mit dem Vogelfutter umgefallen ist? Fünf Freunde verzweifeln fast daran, die Plagegeister wieder loszuwerden, die zu Hunderten in allen Ritzen und Ecken stecken. Das für ein Kinderbuch ganz schön ungewöhnliches Thema hat sich Werner Michl ausgedacht. Michl ist ein Pionier der Erlebnispädagogik. Das noch recht junge Feld der Pädagogik befasst sich mit Gruppenerfahrungen in der Natur, um die Persönlichkeit und die soziale Kompetenz zu stärken. Der 72-Jährige ist eine drahtige, sportliche Erscheinung und gibt bis heute Uni-Seminare mit Höhlenbegehungen und Wildnistouren. Er wohnt seit vielen Jahren im Berger Ortsteil Bachhausen.

Herr Michl, Sie haben schon Dutzende Fachbücher geschrieben, warum jetzt dieses Bilderbuch für Kinder?

Ich hatte das Manuskript schon 30 Jahre fertig in der Schublade und jetzt, als emeritierter Professor, endlich Zeit und Muße, mich um die Veröffentlichung zu kümmern. Außerdem sind meine Enkel zwischen drei und sieben Jahre alt und damit im richtigen Alter.

Wovon handelt das Buch?

Es geht darum, wie eine Freundschaft zerbrechen kann, wenn es plötzlich ein Problem gibt und jeder nur als Einzelkämpfer unterwegs ist. Es bringt viel mehr, wenn man sich zusammensetzt und gemeinsam versucht, es zu lösen. Vieles was im Buch vorkommt, ist wirklich passiert. Wir waren fünf Freunde und ganz unterschiedliche Typen und wohnten damals in einer Studenten-WG in einem alten Bauernhaus bei Freising. Auch unseren Mitbewohner, den Raben Jokl, gab es wirklich. Allerdings muss ich gestehen, dass es nicht wir waren, die die Büchse mit Mehlwürmern umgekippt haben, sondern dass das im Bekanntenkreis passiert ist. Mit verhängnisvollen Folgen. Das ganze Haus musste damals geräumt werden.

Gemeinsam ist man also stärker. Das ist doch bestimmt auch ein Credo in der Erlebnispädagogik?

Da erzähl ich Ihnen ein schönes Beispiel. Es ging um zwei Chefs, einen alten und einen neuen, die waren sich nicht grün und kriegten die Übergabe in der Firma nicht hin. Um das Problem zu lösen, bekamen sie ein Coaching verordnet. Im Hochseilgarten mussten sie über einen wackligen Balken gehen. Sie haben nicht gemerkt, dass das nur geht, wenn sie sich aneinander abstützen. Beide versuchten stur, einzeln rüberzukommen. Jedesmal fielen sie aufs neue ins Netz, wurden wieder hochgezogen und mussten von vorn anfangen. Die Mannschaft unten hat sich das genüsslich zugeschaut. Bis einer mal den Chefs zugerufen hat, wie wär’s, wenn Sie sich gegenseitig helfen?

Hochseilgarten, Klettern, Höhlentouren, das klingt wie Urlaub. Was ist der Unterschied zu Jochen Schweizer?

Bei Jochen Schweizer geht es um die Freude am Abenteuer. Bei uns geht es ums Lernen. Wir Erlebnispädagogen sind überzeugt davon, dass das durch Erlebnisse besser funktioniert. Learning by doing ist besser als der reine Frontalunterricht, das sagt auch die Gehirnforschung. Im Unterschied zu Abenteueranbietern gehört es natürlich hinterher auch dazu, zu besprechen, was die Situation mit dem eigenen Leben zu tun hat.

Wie sind Sie zur Erlebnispädagogik gekommen?

Zum einen bin ich im Chiemgau aufgewachsen, die Berge sind mein Leben. Nach dem Studium war ich eine Zeitlang Leiter der Jugendfreizeitstätte Pullach. Weil ein paar Jugendliche immer von Kanada geschwärmt haben, hatte ich eines Tages den Vorschlag, wir könnten ja mal einen Praxistest machen und dafür in die Berge gehen, eine Schneehöhle bauen und darin übernachten. Das hat richtig gut funktioniert, und der Draht zu den Jugendlichen war hinterher sehr viel besser. Später, als Bildungsreferent der Jugendbildungsstätte Burg Schwaneck in Pullach, kam ich auf die Idee, die Lernräume nach draußen zu verlegen. Wir sind in Höhlen gegangen und haben dort das Höhlengleichnis von Platon gelesen. Oder Rilke-Gedichte über die Nacht und die Dunkelheit.

Was kann man in Höhlen lernen?

Wir haben es genutzt, dass der Abenteuer und Forscherdrang bei Jugendlichen von Haus aus hoch im Kurs stehen. Wenn man das philosophische Gleichnis von Platon wirklich in einer Höhle liest oder sogar im Rollenspiel nachspielt, geht das Verständnis viel tiefer, als wenn man es drinnen in einem Seminarraum behandelt.

Sie sitzen mit Ihren Studenten auch einfach mal schweigend eine Stunde im Dunkeln. Was bringt das?

Am Anfang wurde immer gemault, was, eine ganze Stunde lang, muss das sein. Aber da passiert ganz viel mit uns. Unsere Köpfe sind total voll mit unnötigem Zeug. Man muss erst mal den Alltagskäse wegdenken und zur Ruhe kommen. Das einzige Geräusch ist das tropfende Wasser in der Höhle. Nach einiger Zeit kommt man zu dem Wesentlichen, was einen wirklich bewegt. Zum Beispiel, was man gerne in seiner Bachelor-Arbeit machen würde (lacht). Später „wecke“ ich die Studierenden, indem ich mit Steinen klopfe. Und dann kann es keiner glauben, dass die Stunde schon vorbei ist.

Eines Ihrer Uni-Seminare halten Sie Lappland ab.

Lappland ist die letzte Wildnis Europas. Es gibt weder Wege noch Handyempfang. Wir laufen fünf Tage, jeden Tag bekommt ein anderer Karte und Kompass und muss die anderen dirigieren. Da gibt es einen Haufen irrationale Ängste: sich verlaufen, hungern müssen, nass werden und frieren, auch Ängste vor Bären oder Wölfen.

Wie findet denn da die Pädagogik statt?

Der Sinn des Seminars ist es, das Selbstbewusstsein zu stärken und soziale Kompetenzen zu entwickeln. Die Leute kommen total happy zurück, weil sie es gemeinsam geschafft haben. Es ist ein riesiges Erfolgserlebnis, mal seine Komfortzone zu verlassen, an seine subjektiven Grenzen zu kommen und das zu meistern. Ein Lagerfeuer zu machen, obwohl es regnet oder sich durchzubeißen mit einem Rucksack, der schon mal 18 Kilo wiegt.

Welche Gruppendynamik läuft da ab?

Die ist hochinteressant. Es gibt immer Leute, die nicht so fleißig sind und das merken die anderen natürlich, dass die noch nie gekocht und abgespült haben. Da gibt’s natürlich Konflikte. Aber an diesen Konflikten lernt man eben auch. Die Gruppe muss sich zusammenraufen. Ich greife nur ein, wenn es sein muss. Aber natürlich muss ich die Augen offenhalten, dass es jedem psychisch gut geht. Und meine Rolle ist es natürlich auch, für die äußere Sicherheit zu sorgen.

Können Sie ein Lagerfeuer machen?

Ich bin seit 35 Jahren unterwegs, da lernt man die Basics. Welches Holz gut brennt, und dass man genug Wasser dabei hat, in Lappland ist das aber kein Problem. Man sollte aufpassen, dass man anfangs nicht zu viel Beeren isst. Der Magen ist an so viele Preiselbeeren und Blaubeeren nämlich nicht gewohnt, sonst gibt’s Durchfall.

Was ist die wichtigste Eigenschaft, die man als Leiter mitbringen muss?

Als erstes die Erfahrung, alle Touren habe ich erst alleine ausprobiert. Die Teilnehmer sollen sich ja nicht in Gefahr begeben. Sportlich muss man natürlich schon sein. Und man darf nicht die Nerven verlieren, denn Panik überträgt sich auf die Gruppe.

Ruhe bewahren, das hört sich so easy an. Gab es denn nie brenzlige Situationen?

In all den Jahren ist zum Glück nie viel passiert. Wenn einer ins Wasser fällt, dann werden die Sachen am Feuer getrocknet. Wenn einer Kopfweh hat, dann ist halt einen halben Tag Lager angesagt. Aber ein grenzwertiges Erlebnis gab es doch.

Was ist passiert?

Wir waren in einer Höhle eingesperrt. Das war im Jahr 1997 in der Salzgrabenhöhle am Königsee. Ein riesiges Höhlensystem. Was es dort gibt, sind Siphon, Höhlengänge, die wie eine Sinuskurve verlaufen. Nachts bin ich runtergegangen und habe gemerkt, dass der Siphon durch vielen Regen zugelaufen und uns der Weg abgeschnitten ist.

Was macht man dann? Hat man da nicht Angst um sein Leben?

Eigentlich ging es nur darum, zu warten, bis das Wasser wieder abgelaufen ist. Rein rational gab es keine Gefahr. Wir waren gut ausgerüstet, hatten Schlafsäcke und genug Essen und Trinken dabei. Die meisten von uns waren Bergsteiger mit viel Erfahrung, ein paar Anfänger gab es aber auch. Wichtig ist immer, dass keine Panik ausbricht. Die Regel lautet, wenn ein paar in der Gruppe positiv denken, dann springt das auf die anderen über. Aber auch wenn man lässig tut, ist die Verantwortung natürlich groß. Ich muss immer schauen, wie die Leute zurechtkommen und mich in ihre Ängste auch hineinversetzen können, sie beruhigen. Draußen war die Aufregung natürlich groß. Aber wir haben keine Hilfe gebraucht, wir kamen aus eigener Kraft wieder raus. Nach 24 Stunden war das Wasser wieder abgelaufen.

Es muss ja nicht immer gleich eine Höhle sein, Erlebnispädagogik lässt sich doch bestimmt auch im Alltag umsetzen. Welche praktischen Tipps haben Sie für Eltern mit Kindern?

Öfter gemeinsam in die Natur rausgehen, weil diese eine sehr heilsame Wirkung hat. Zum Beispiel kann man eine Nachtwanderung im Wald machen. Etwas ganz harmloses und trotzdem ein großes Erlebnis. Einfach die Taschenlampe ausmachen, ganz still sein und schauen, was man alles sieht oder das Käuzchen rufen hört. Oder im Sommer nachts in der Wiese schlafen. Ich gehe mit meinen Enkeln auch gern zu dem Weiher zwischen Bachhausen und Icking, da gibt es ganz viele Vögel, die wir beobachten. Oder Sie kraxeln mal auf einen Jägerstand und machen oben Brotzeit mit den Kindern. Das sind alles kleine Abenteuer, die jeder machen kann. Dafür muss man auch nicht sportlich sein.

Bewegung und frische Luft können also so eine große Wirkung haben?

Ich bin seit vielen Jahren im Vorstand vom Verein GFE | erlebnistage (www.erlebnistage.de). Wir haben im Jahr 800 Schulklassen zu Gast. Die Kinder sind den ganzen Tag draußen und toben, abends sind sie müde und fallen ins Bett. Und wissen Sie was, ADHS spielt bei uns so gut wie keine Rolle.

Werner Michl (2023). Der Rabe Jokl, viele Mehlwürmer und fünf Freunde. Ein Bilderbuch zum Lesen, Vorlesen und mit Anregungen zum Weiterdenken. Mit Bildern von Anke Schlehufer. Augsburg: ZIEL-Verlag, Euro 24,80.

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